Die Graslitzer Straße
.. ist Teil eines Jahrhunderte alten Handelsweges und um ihren Verlauf zwischen Klingenthal, dem ehemaligen Markhausen (Hranice) bis Graslitz (Kraslice) rankt sich Weltgeschichte: Vielleicht hielt gar Kaiser Karl IV. aus Sachsen kommend Einzug in Graslitz zur Verleihung des Stadtrechts vor 650 Jahren? Diktator Adolf Hitler befuhr sie 1938 beim Einmarsch in das Sudetenland. Mehrfach endete die Graslitzer Straße als Sackgasse, zweigeteilt durch politische Entscheidungen von Nationalstaaten, welche die Grenzlinien für alle deutlich sichtbar zogen.
Zu Lebzeiten Kaiser Karls IV. im 14. Jahrhundert war die Grenze an der Graslitzer Straße nur eine territoriale Begrenzungslinie zwischen feudalistisch regierten Ländern, welche aber allesamt ein Teil des größeren Staatsgefüges des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation waren. In den folgenden Jahrhunderten gewann diese Linie zwischen Sachsen und Böhmen zunehmend an Bedeutung und wurde schließlich zur Reichsgrenze zwischen dem Deutschen Kaiserreich und Österreich-Ungarn. Doch sie blieb trotz nun getrennter Herrschaften immer durchlässig. Die Graslitzer Straße war Versorgungs-, Arbeits- und Vergnügungsweg. Wirtshäuser, Kinos, Läden und Hotels säumten sie durchgängig.
Mit Gründung der 1. Tschechoslowakischen Republik und der Weimarer Republik nach dem 1. Weltkrieg wurde die Grenze so deutlich sichtbar wie nie zuvor: Nationalstaatliche Entscheidungen machten ihr Passieren schon in den 1920ern bürokratischer. Jenseits der Grenze nahm der Konflikt zwischen Sudetendeutschen und Tschechen an Gewalt zu, die Klingenthaler Zeitung berichtete im September 1938 über tausende Flüchtlinge aus der Graslitzer Gegend welche in Klingenthal in Notunterkünften auf eine Lösung und damit Beruhigung der Lage hofften. Adolf Hitler drohte der ČSR mit Krieg. Deshalb hatten sich die Westmächte letztlich im Münchner Abkommen vom 29. September 1938 darauf geeinigt, dass die Gegenden mit mehrheitlich deutscher Bevölkerung an das Deutsche Reich abgetreten werden sollten. Am 3. und 4. Oktober 1938 rollten Panzer der Wehrmacht durch die Graslitzer Straße von Klingenthal nach Markhausen und Graslitz. Am frühen Morgen des 4. Oktober 1938 verbreitete sich die Nachricht, dass Adolf Hitler persönlich an diesem Dienstag über die Graslitzer Straße in das „befreite“ Sudetenland einfahren würde. Tausende Menschen säumten jubelnd den Zufahrtsweg des Diktators. Der kurze „grenzenlose“ Zustand endete mit dem Ausgang des 2. Weltkrieges. Das Gebiet des Sudetengaus wurde der ČSSR zugesprochen, die deutschstämmigen Einwohner vertrieben. Die Graslitzer Straße wurde zur Sackgasse, der Ort Markhausen dem Erdboden gleich gemacht, Graslitz fortan Kraslice genannt. Einzig die Straßenführung war immer zuverlässig zu erkennen. Wohl auch strategische Überlegungen der Sowjetischen Vormacht, sich ohne Hindernisse innerhalb der Warschauer Pakt - Staaten DDR und ČSSR bewegen zu können, dürften dabei eine Rolle gespielt haben. Es brauchte Jahrzehnte, bis dem Misstrauen in Folge von Krieg und Vertreibung das Bedürfnis nach Dialog wich.
Mit der politischen Wende wurde die Graslitzer Straße wieder Schauplatz der Weltgeschichte, das Tor an der Grenze wurde geöffnet: Am 5. Mai 1990 für einen Tag und ab 30. Juni 1991 bis in die Gegenwart war die Graslitzer Straße wieder durchgängig nutzbar. Anfangs sicherte das „Miri-Taxi“ den schnellen Weg nach Kraslice, mit der Freigabe für den Autoverkehr wuchsen Tankstellen und Asiamarkt wie Pilze aus dem Boden. In Folge des Beitritts der Tschechischen Republik zum Schengener Abkommen entfielen schließlich sogar die Grenzkontrollen. Die Graslitzer Straße war in den frühen 2000er Jahren endlich mitten in Europa angekommen.
… Doch als sich der neue Corona-Virus verbreitete, schloss die Tschechische Regierung in Folge der weltweiten Pandemie in der Nacht vom 13. zum 14. März 2020 ihre Grenze zu Deutschland. Die Graslitzer Straße wurde erneut zur Sackgasse. Tschechische Grenzpolizisten und Soldaten hatten mobile Befestigungen errichtet. Nach stufenweisen Lockerungen ist die Graslitzer Straße nun seit Freitag, den 5. Juni 2020, 12 Uhr mittags wieder durchgängig nutzbar.
Angesichts jener Reihung von weitreichenden Ereignissen scheint die Ungewissheit darüber, wie sich die Geschichte der Graslitzer Straße fortsetzen wird, fast schon beunruhigend. Eine feste Größe aber bleibt: Der Verlauf dieser Geschichte wurde immer von Menschen bestimmt, sie entscheiden auch, wohin der Weg der Graslitzer Straße in Zukunft führen wird. (XB)
Geschäfts- und Vergnügungsmeile: Die Straße nach Graslitz säumten Wohn- und Geschäftshäuser. Das Restaurant zum „Braun` Hund“ war eines der bekanntesten Einkehrmöglichkeiten in Markhausen.
Vorboten des Krieges: Vom Einmarsch deutscher Truppen in das Sudetenland über die Graslitzer Straße existiert ein ganzes Dutzend Postkarten. Dieses Exemplar zeigt nicht nur eine grenzenlos begeisterte Bevölkerung am 4. Oktober 1938 in Klingenthal, sondern symbolisiert auch die militärische Entschiedenheit der Deutschen Wehrmacht am Vorabend des 2. Weltkrieges.
Völkerverständigung: Für die jüngeren Generationen von Tschechen und Deutschen war die Öffnung des Übergangs ein Neubeginn der Völkerverständigung nach dem bisher bewegtesten Jahrhundert in der Graslitzer Straße. Der Klingenthaler Enno Röder hatte diesen Moment am 30. Juni 1991 fotografisch festgehalten.